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Die Suche nach dem goldenen Vogel

 

Entstehung

Zur Entstehung von „Die Suche nach dem goldenen Vogel“ möchte ich eine Geschichte erzählen. Die Geschichte hinter der Geschichte. Die Geschichte von FreeFree.

Die Geschichte von FreeFree

Der blaue Wellensittich auf dem Strauch vor meiner Haustür schaute mich böse an. Da war ein unsichtbares Band zwischen uns, als hätten wir uns schon früher gekannt. Es war, als zögen Bilder von gemeinsamen Leben vor Hunderten von Jahren an meinem inneren Auge vorbei. „Klick“ machte unser Karma.

Und voilà: Als ich am Abend nach Hause kam, saß der blaue Wellensittich in einem behelfsmäßigen Drahtkäfig in meinem Zimmer und schaute mich böse an. Dann drehte er mir demonstrativ den Rücken zu.

Susanne, meine damalige Hausgenossin, die ich am morgen zu Hilfe geholt hatte, weil ich schnell weg musste, hatte ihn eingefangen. Der Wellensittich hatte sich in einer Hecke verfangen. Es war reiner „Zufall“, dass Susanne ihn erwischt hatte. Und „Klick“ machte es zum zweiten Mal. Und die unsichtbare Karmakette zwischen uns rastete fest ein.

Der Wellensittich machte keinen Hehl daraus, dass er es hasste, gefangen zu sein. Er hasste es hier zu sein, wieder im Käfig. Er hasste Susanne und er hasste mich. Er hasste alle Menschen.

Am nächsten Tag kaufte ich Wellensittichfutter. Einige Tage lang machte ich mir Gedanken, ob ich es ethisch vertreten konnte, einen Wellensittich gegen seinen Willen festzuhalten. Einen Wellensittich, der wahrscheinlich sein ganzes Leben auf die einmalige Chance gewartet hatte, seinem Käfiggefängnis zu entkommen. Sollte ich nicht seinen Wunsch respektieren, endlich frei zu sein, auch wenn es seinen sicheren Tod bedeutete? Hatte der Vogel nicht das Recht, selbst sein Schicksal zu wählen, selbst zu entscheiden, welchen Preis er für seine Freiheit zahlen wollte?

Tagelang quälte ich mich mit diesen Gedanken. Und der blaue Wellensittich saß in seinem Käfig, fraß sein Futter und schaute mich böse an. Oder er drehte mir den Rücken zu. Jeden Abend, wenn ich und mein Lebensgefährte nach Hause kamen, drehte er uns demonstrativ den Rücken zu. Mein Lebensgefährte, der damals vorübergehend bei mir wohnte, meinte, ich solle den Vogel weggeben bzw. zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurück bringen. Das Leben sei schon hart genug. Er empfände es als niederschmetternd, nach einem stressigen Tag nach Hause zu kommen und dann einen unfreundlichen Wellensittich anzutreffen.

Pflichtbewusst fing ich an, nach dem Besitzer des Wellensittichs zu suchen. Susanne, deren Vater Wellensittichzüchter war, klärte mich auf, dass Wellensittiche problemlos kilometerweit fliegen konnten. Trotzdem fragte ich in der Nachbarschaft, ob jemandem ein Wellensittich entflogen war. Die Frau in der Apotheke meinte, ja, sie hätte ihn auch gesehen, den grünen Wellensittich, draußen oben im Baum am Straßenrand. Anscheinend war die Welt voll von Wellensittich-Freiheitskämpfern, die jede Chance nutzten, das Joch der Gefangenschaft hinter sich zu lassen.

Nach einigen erfolglosen Bemühungen dieser Art gab ich es auf, den ehemaligen Besitzer des Vogels zu suchen. Im Grunde meines Herzens wollte ich ihn nicht finden. Denn es war offensichtlich, dass der Vogel sein Leben als Knechtschaft empfunden hatte. Möglicherweise war er jahrelang allein gehalten worden, mit wenig Freiflug und Unterhaltung, tagaus tagein in dem beschränkten Raum eines viel zu kleinen Käfigs.

Susanne und ich fingen an, uns wegen einem Namen für den blauen Wellensittich Gedanken zu machen. Susanne meinte, irgendein Name, der „Freiheit“ symbolisierte. Da Freiheit dem blauen Wellensittich über alles zu gehen schien. Schließlich nannte ich den blauen Vogel „FreeFree“.

„FreeFree“ hatte schwarze Augen und liebte Hirsekolben. Er sang oder piepste nie. Bis auf den einen denkwürdigen Moment, den ich nie vergessen werde. Susanne, bei der ich zur Untermiete wohnte, erlaubte es mir schließlich, FreeFree in meinem Zimmer frei fliegen zu lassen. Als ich das Käfigtor zum ersten Mal öffnete und FreeFree verstand, dass er wieder fliegen konnte, stieß er einen lauten, triumphalen Schrei aus und schwang sich sofort in die Lüfte. Später übernachtete er kopfunter an einer Zimmerpflanze hängend wie eine Fledermaus.

Susanne riet mir, einen Spiegel für FreeFree zu kaufen. Und zum ersten Mal fing FreeFree an zu sprechen. Er führte lange Monologe vor dem Spiegel. Er erzählte dem Vogel im Spiegel so allerlei und hüpfte vor ihm auf und ab. Als FreeFree anfing, den Vogel im Spiegel mit Basilikum zu füttern, beschloss ich, eine Frau für FreeFree zu finden.

Damals war ich noch Studentin und ich hatte kein Auto. Der Zooladen am Bahnhof war die einzige Möglichkeit für mich, einen Wellensittich zu kaufen und dann mit dem Taxi nachhause zu bringen. Aber waren all die jungen Zuchtwellensittichweibchen nicht zu jung für FreeFree? Und wie konnte ich sicher gehen, ein Weibchen auszuwählen, das ihn auch erhören würde?

Es vergingen einige Wochen der Unschlüssigkeit. Eines Nachts träumte ich von zwei blauen Wellensittichen, die frei in meinem Zimmer herumflogen. Ich betrachtete das als Zeichen. Als ich wieder in den Zooladen ging, hatten sie nur ein einziges blaues Wellensittichweibchen.

Ich werde nie wieder einen Vogel in einem kleinen Pappkarton mit Luftlöchern transportieren. Die kleine Wellensittichdame, die laut den Aussagen des Manns im Zooladen gerade ein „Teenager“ war, hatte in dem dunklen Karton schreckliche Angst während der Taxifahrt. Als wir daheim ankamen, war der Karton innen nass und ein zu Tode erschrecktes Wellensittichweibchen flatterte unbeholfen ins Zimmer.

„FreeFree“ übernahm es sofort souverän, die Wellensittichdame mit Kontaktrufen anzuleiten, wo sie hinfliegen sollte. Und in kurzer Zeit saß sie auf dem Käfig neben FreeFree. Das helle Zimmer mit viel Grün vor dem Fenster schien ihr zu gefallen.

Es gibt Leute, die behaupten, dass Vögel nicht lächeln können. Das wage ich zu bestreiten. FreeFree lächelte wie ein Honigkuchenpferd. Anders kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht beschreiben. Sein Traum war wahr geworden. Nicht mehr allein!

FreeFree begann sofort, das Weibchen, das ich „JoyJoy“ nannte, zu umwerben. Tag und Nacht (wann auch immer ich nachts das Licht anmachte) sang FreeFree unermüdlich für JoyJoy. Tag und Nacht tanzte er vor ihr. Und JoyJoy, der trotz ihres jugendlichen Alters weibliche Koketterie nicht fremd zu sein schien, tat so, als ob sie das gar nicht interessierte. Nur, wenn FreeFree einmal aufhörte, mit seinem Tanz und Gesang und aufgeplustertem Kopfgefieder um sie zu werben, flog sie in seine Nähe und schaute ihn an. Nur um dann gleich wieder so zu tun, als habe sie kein Interesse an ihm.

Es dauerte mehrere Monate, bis JoyJoy FreeFree erlaubte, mit ihr zu schnäbeln. FreeFree war ein Gentleman. Egal, wie lecker das Vogelfutter war, egal, wieviel Hunger er hatte: Wenn JoyJoy zum Futter hüpfte und so zu verstehen gab, dass sie fressen wollte, ließ FreeFree ihr ritterlich den Vortritt.

Als ich ein kleines Holzvogelhäuschen mit einem Schlupfloch für die beiden anschaffte, wurde ihre Beziehung sogar richtig romantisch. Ihr liebstes Spiel sah folgendermaßen aus: FreeFree blockierte wie ein Torwart das Schlupfloch zum Häuschen. JoyJoy versuchte trotzdem, hinein zu kommen. Mehrmals ließ FreeFree das nicht zu. Dann durfte sie ins Häuschen, und FreeFree folgte ihr dann, und sie schnäbelten dort innig miteinander.

Damals lief meine Beziehung nicht gut, und es gab Zeiten, zu denen ich mir wünschte, ich wäre ein Wellensittichweibchen.

FreeFree blieb ein unfreundlicher und misstrauischer Vogel. Ich fing an, intensiv mit ihm zu sprechen und ihm zu sagen, was für ein wundervoller, lieber Vogel er sei, und wie sehr ich ihn liebte. Ich sang auch für ihn. Einmal sang ich ein Lied davon, wie wertvoll Freiheit war, aber dass die einzige wahre Freiheit darin bestand, aus dem Kreislauf der Wiedergeburt befreit zu werden. Ich weiß, dass FreeFree mich damals verstand. Am traurigen, tief bewegten Blick seiner dunklen Augen konnte ich sehen, dass seine Seele mich verstanden hatte. Auf der Seelenebene konnten wir kommunizieren. Einen magischen Moment lang waren Mensch und Vogel eins.

Erst viel später erkannte ich, dass ich, als ich für FreeFree sang und mit meiner Liebe versuchte, ihm wieder Vertrauen zu den Menschen zu geben, eigentlich etwas in mir geheilt hatte. Ich war der Vogel, der vor dem Spiegel sang. Wie FreeFree war ich sehr verletzt worden, und ich hatte meine eigene Art, den Menschen den Rücken zuzudrehen. Und dem Leben.

Ich liebte FreeFree über alles. Ich liebte ihn gerade für seine unfreundliche Art. Weil sie so echt war. Weil FreeFree sich nicht verstellte. Weil er das artikulierte, was ich im Grunde meines Herzens auch empfand: Den Menschen ist nicht über den Weg zu trauen.

JoyJoy starb einige Jahre später an einem Tumor. Sie war immer ein kleiner, etwas schwächlicher Vogel geblieben und die Tierärztin sagte mir, dass sie den Tumor im Anfangsstadium wahrscheinlich schon gehabt hatte, als ich sie im Zooladen abholte. Ich werde nie vergessen, wie sie ein letztes Mal zum Fenster trippelte und hinaus schaute.

Am nächsten Morgen lag ihr kleiner Körper bewegungslos auf dem Boden. FreeFree stand, so schien mir, fassungslos daneben und schaute das regungslose blaue Federhäufchen an, fast als wolle er JoyJoy anstupsen und dazu bewegen, wieder aufzustehen. Es brach mir das Herz. Eine Woche später ging ich in den Zooladen und kaufte ein wunderschönes blauweißes Wellensittichweibchen, das ich Melody nannte.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Noch am Tag von Melodys Ankunft schnäbelten die beiden miteinander. Ich wunderte mich ein wenig, wie FreeFree JoyJoy so schnell vergessen konnte. Eine Freundin meinte, eine Woche Trauer sei genug für einen Wellensittich.

Einige Zeit später bekam auch FreeFree einen Tumor. Später zog er sich auch einen Leistenbruch zu und konnte nicht mehr fliegen. Der Tierarzt konnte nicht helfen. FreeFree lebte trotz des Tumors noch längere Zeit. Aus Solidarität mit FreeFree flog Melody fast nie, obwohl sie sich im ganzen Zimmer frei bewegen konnte, sondern blieb still neben FreeFree auf der Käfigstange sitzen.

Eines Morgens fanden wir FreeFree tot im Käfig.

Jahre später kam ich an einen Tierfriedhof. Ich wusste nicht einmal, dass es einen Tierfriedhof in unserer Gegend gab. Für einen jährlichen Beitrag konnte man dort einen Platz für sein Haustier reservieren. Da lagen sie in Reihen: Über alles geliebte Hauskatzen und Haushunde, und auch einige Vögel. Damals wünschte ich mir, ich hätte dort auch für FreeFree und JoyJoy ein Grab gehabt und eine Kerze für sie anzünden können.

Das war kurz vor der Veröffentlichung meiner Geschichte „Die Suche nach dem goldenen Vogel“. Als ich heimkam, weinte ich wieder über den Tod von FreeFree.

Ich vermisse dich immer noch, FreeFree! Aber es tröstet mich, dass ich dir auf meine Art ein Denkmal gesetzt habe. Du hast mir eine Geschichte geschenkt und ich habe sie dir gewidmet, und den anderen Vögeln in meinem Leben. Ich werde dich nie vergessen.

© Alinya 2012