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Die Suche nach dem goldenen Vogel

 

Leseprobe

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In das grünliche Dämmerlicht des wildwüchsigen Waldesdschungels drangen kaum ein paar Sonnenstrahlen, obwohl es mittlerweile heller Tag war. Weit und breit war kein Licht zu sehen, dem der Spatz hätte folgen können. Erst als er auf eine Anhöhe flog, wo der Wald weniger dicht war, sah er weit in der Ferne einen strahlenden Lichtpunkt. Der Spatz beschloss, darauf Kurs zu nehmen. Das Licht blieb unverändert in weiter Ferne vor ihm, egal, wie lange er flog, und es schien ihm, als ginge von seiner Stirn ein feiner Lichtstrahl aus, der ihn mit dem fernen Licht verband.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung sah er Rauch aus dem Wald aufsteigen. Er stieg nur von einer Stelle auf, also konnte er nicht von einem Waldbrand herrühren. Als der Spatz sich schließlich der Feuerstelle genähert hatte, schwelte sie nur noch leicht. In ihrem Umkreis lagen einige rot-goldene Vogelfedern, wie er sie noch nie gesehen hatte. Manche waren an den Rändern leicht verkohlt. Bei Einbruch der Dunkelheit ließ sich der Spatz erschöpft auf einer Buche nieder und war sofort eingeschlafen.

Als er am Morgen erwachte, sah er über sich einen überirdisch schönen Vogel sitzen. Von seinem Gefieder aus strahlend roten und goldenen Federn ging ein sanftes Licht aus. „Bist du der goldene Vogel?“, fragte der Spatz.

„Nein,“ sagte der fremde Vogel. „Ich bin ein Phönix. Alle 300 Jahre verglühe ich, und danach feiere ich meine Auferstehung aus der Asche.“

„Meine Mutter hat mich gelehrt, dass Phönixe sehr edel sind. Ich suche den goldenen Vogel. Er wohnt bei den sieben Linden, wo die tröstende Quelle entspringt und die lauen Lüfte wehen und sich die Blumenelfen im Tanz wiegen.“

„Ich kenne den Ort“, sagte der Phönix. „Ich bin oft dort.“

„Bitte sag mir, wie ich den goldenen Vogel finden kann“, sagte der Spatz.

„Du musst bereit sein, alles zu opfern, selbst dein Leben“, sagte der Phönix. „Folge dem Duft! Schuschuschu, nur zu!“ Dann war er plötzlich verschwunden.

* * *

Der Spatz hatte den lieblichen Blumenduft schon vorher bemerkt, aber es war schwer auszumachen, von woher er kam. Schließlich wies ihm ein reich mit Blumendüften beladener Windhauch den Weg. Der Wind wehte immer stärker aus der Richtung, aus der er den Duft herbei getragen hatte, und gegen den Wind zu fliegen war anstrengender, als der Spatz sich vorgestellt hatte.

Plötzlich merkte er, wie müde er war. Schließlich war er schon fast drei Tage unterwegs und hatte nur ein paar Samen und Beeren und etwas Tau zu sich genommen. Trotzdem zwang er sich weiterzufliegen. Er dachte daran, wie froh der blaue Vogel sein würde, wenn er endlich wahre Freiheit erfahren würde. Je länger der Spatz flog, desto intensiver wurde der Blumenduft, und in seiner Ermattung schien es ihm, als verlöre er sich in dem Duft, als sei sein Körper nicht mehr existent und er selbst nicht mehr als ein Dufthauch. Kurz vor der Abenddämmerung gelangte er zu einer Lichtung, die über und über mit paradiesisch schönen Blumen in allen Formen und Farben übersät war.

Der Spatz hatte nicht einmal mehr die Energie, sich einen Baum für die Nacht zu suchen. Schwer atmend und vollkommen entkräftet fiel er auf ein Bett aus süß duftenden Gräsern und zarten blauen Blüten.

* * *

Als der Spatz wieder erwachte, hörte er leises Wasserrauschen. Der Blumenduft war jetzt noch lieblicher als zuvor.

„Wir haben dich erwartet“, sagte der goldene Vogel.

„Wie bin ich hierher gekommen?“, fragte der Spatz. Er befand sich immer noch auf einer Lichtung, aber hier wuchsen noch viel schönere Blumen als jene, die er in der Abenddämmerung auf der Wiese gesehen hatte.

„Die Blumenelfen haben dich auf ein Huflattichblatt gebettet, und mein Freund, der Greif, hat dich in seinen Krallen getragen und zu mir geflogen. Trink das, dann kommst du wieder zu Kräften.“

Der goldene Vogel gab ihm etwas Wasser auf einem Rosenblatt. „Es ist Wasser aus der tröstenden Quelle. Sie kann alle Wunden heilen und allen Durst löschen. Wer regelmäßig aus ihr trinkt, wird ewig leben.“

Als der Spatz getrunken hatte, sagte der goldene Vogel: „Ruh dich weiter aus. Wenn du etwas brauchst, steht dir der Kolibri zu Diensten.“

Der Kolibri war ein kleiner, grüner Vogel mit einem langen, dünnen Schnabel und einer leuchtend blau gefärbten Kehle. Er umkreiste den Spatz in eleganten Pirouetten, die er sowohl im Vorwärts- als auch im Rückwärtsflug drehen konnte.

* * *

Der Spatz wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er jäh aufschreckte. Über sich hörte er ohrenbetäubendes Dröhnen. Dann sah er einen schwarzen Schatten am Himmel vorbei fliegen, der so groß war, dass er einen Augenblick lang die Sonne verdunkelte. Das Dröhnen schwoll weiter an und wurde so unerträglich laut, dass die Erde davon erbebte. Der Spatz begann panisch im Kreis zu flattern.

Als der Lärm abgeklungen war, hörte er die Stimme des Kolibris neben sich. „Keine Angst! Das war nur der Donnervogel, der zu seinem Posten im Norden fliegt. Er ist einer der kosmischen Wachvögel.“

Der Spatz hatte sich kaum von dem Schrecken erholt, als ein orkanartiger Wind aufkam, der so stark war, dass er Angst hatte, er könne ihn mit sich fortreißen. Entsetzt krallte er sich an den Zweigen eines Strauchs fest, dessen violette Blüten in wilden Spiralbewegungen im Wind davon wirbelten. Über sich sah er die Schwingen eines gigantischen Vogels. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde es Nacht. Dann war der Vogel nur noch aus der Ferne zu sehen. „Das war der Vogel Rock, der im Süden wacht“, hörte er neben sich die Stimme des Kolibris.

„Siehst du den anderen Vogel dort hoch über den Wolken?“ Der Spatz blickte wie gelähmt vor Angst nach oben. „Das ist der Vogel Peng, auf dem Weg zu seinem Wachposten im Osten.“

Kaum war der große Vogel verschwunden, hörte der Spatz in der Ferne das angsterfüllte Schreien vieler Furcht erregender Vogelstimmen. „Der Vogel Ziz ist im Anflug“, sagte der Kolibri. Wie durch ein Wunder war es ihm gelungen, in der Nähe des Spatzes zu bleiben. „Er beschützt die kleinen Vögel vor den Raubvögeln. Jene haben so große Angst vor ihm, dass sie bei seinem Anblick laut aufschreien. Er fliegt zu seinem Wachposten im Westen.“ Weit oben in den Wolken sah der Spatz einen Vogel, der so groß war, dass ihm schien, er müsse bis an den Himmel reichen.

„Der goldene Vogel hält heute einen Vortrag“, sagte der Kolibri. „Die kosmischen Wachvögel haben ihre Posten eingenommen, um Ihn und die Versammlung der heiligen Vögel dabei zu beschützen. Jetzt schnell, auf zu den sieben Linden!“